Echo

„Es gab keinen vernünftigen Grund, den LKW-Führerschein zu machen. Es gab nur einen unvernünftigen: Es war mein Traum.“ So beginnt die Autorin ihr LKW-Lerntagebuch.

Auf eine unbeschreiblich lebendige, authentische und offene Art wird der Leser mit auf eine Abenteuerreise genommen. Ihr treuer und zuweilen auch sehr herausfordernder Begleiter ist ein LKW, der sie in den technischen Urwald von Bremssystemen, Stabilitätsprogrammen und Antiblockiersysteme hineinmanövriert, in dem die Autorin manchmal auch unterzugehen droht.Annette Hartmann hat sich entschieden, die Führerscheine C und CE im „kombinierten Erwerb“ zu machen. In chronologischen Tagebuchaufzeichnungen beschreibt sie ihren Weg in einer nachweislich männerdominierten Welt. Ihr Schreibstil ist persönlich, tänzelt geschickt bis gnadenlos ehrlich in ihrer Prozessrealität herum. Sie erlaubt Einblicke in ihre Gefühlswelt, die wir sonst nur in Romanen erleben dürfen. Gleichzeitig beschreibt sie sehr klar und detailliert technische Vorgänge, erzählt in dreidimensionalen Bildern, so dass der Leser glauben mag, er wäre selbst Teil dieses intensiven und herausfordernden Prozesses. Das berührt, will mehr, glaubt an den sehnlichst erwarteten Erfolg: Die kleine und zierliche Frau (1,62 cm) besteht die erste Führerscheinprüfung Klasse C mit Eleganz und zum Erstaunen manch männlicher Kollegen.
Doch den „wahren Meister“ findet Annette Hartmann in der Prüfung für den Anhänger-Führerschein CE. Mit Neugier und jugendlichem Tatendrang stellt sie sich den plötzlich und unerklärlich auftauchenden Ängsten und Zweifeln an sich selbst. Das Rangieren will einfach nicht gelingen. Sie fällt durch die CE-Prüfung. Dann besinnt sie sich auf ihre Methoden als Kommunikationsberaterin: Affirmationen und mentale Programmierung. Macht sich über das Emotionalisieren, das „Vermenschlichen“ der kalten Technik den LKW zum Freund und Dialogpartner. Im Visualisieren schreibt sie ihre Erfolgsgeschichte. Geht von der inneren zur äußeren Lernmethode, indem sie sich Rangierfilme auf Youtube anschaut, ihre eigenen Fahrstunden vom Fahrlehrer filmen lässt und letztlich sich ein Rangiermodell entwickelt. Beeindruckend sind ihre Dialoge mit dem LKW. Sie bedient sich der Weisheit des LKWs, die letztlich Ausdruck ihrer eigenen inneren Weisheit ist, eine Art Inkubationsphase vor dem endgültigen Durchbruch. Der Leser darf jeden ihrer Wachstumsschritte mitgehen. Alles läuft darauf hinaus, das LKW-Lebensgefühl zu verinnerlichen, den LKW in sich selbst zu entdecken. Der zweite Anlauf ist die Quintessenz aller Lerneffekte und mündet schließlich in einer sehr souveränen Prüfung.
Die Autorin schenkt dem Leser mit ihren Erkenntnissen und Erfahrungen wunderbare Analogien zum Alltag: Der LKW, als Sinnbild für Größe, Stärke, Weitblick und Oben-Sein, hat die Verantwortung, im Verkehr umsichtig und erwachsen zu handeln, „mit Rücksicht auf die vielen Kleinen“. Ist das nicht auch die Aufgabe z.B. einer Führungskraft? Sie spricht vom richtigen Drehmoment, der notwendig ist, die Trägheit der enormen Lasten und Gewichte eines LKWs zu überwinden. Ist das nicht ähnlich des Tipping-Points, der uns darauf hinweist, wann sich ein Zustand vom Negativen zum Positiven wandelt? Wenn der Leser will, kann er in vielen Bildern, die Annette Hartmann beschreibt, Transferpotenzial finden. Ein weiteres Argument, diesen Selbsterfahrungsbericht einem breiteren Leserpublikum zu empfehlen.
(Cornelia Hargesheimer, theater@work, Darmstadt 21.09.2015)